Jeder Mensch braucht seine Zeit
Roland Seidel stellt seine Analyse
des Schulsystems vor
(Bericht aus dem Wiesbadener Tagblatt vom 29.03.2011
von Sabine Bongartz)
Mit der Lesung aus dem Buch des Autors Roland Seidel "Reißt diese Schulen
ein!" wagte sich das Kellertheater in der Aartalschule in Michelbach erstmals
an eine reine Vortragsveranstaltung. "Die Schulleitung hätte Seidel wegen
seiner Thesen gegen den Mainstream ja nicht einladen können", erklärt Ursula
Giebel als Organisatorin und ehrenamtliche Vorsitzende des Vereins.
Trotz des umstrittenen Themas hätte das Publikum allerdings an diesem Abend an
einem Vierertisch Platz finden können, was Autor Roland Seidel aber nicht
davon abhielt, in seinem Vortrag die Schule wie einen Patienten anhand von
Anamnese, Diagnose und Therapie zu durchleuchten.
Seine Anamnese, die Erhebung der schulischen Krankengeschichte, zählt heute
neben sieben Millionen Analphabeten auch 2,5 Prozent aller Schüler als
Sitzenbleiber auf, 3 Prozent als Schulabbrecher, Stress in den Familien,
Zunahme psychosomatischer Erkrankungen sowohl bei Schülern als auch bei
Lehrern sowie die mangelnde Qualifikation von Studenten. Und das alles,
nachdem schon 1964 von der Bildungskatastrophe gesprochen worden war und
zahlreiche Studien und Tests die Schullandschaft bis heute in Atem halten.
Woran das liegt, erklärt die Diagnose.
Seidels Hauptargument kritisiert die Vorgehensweise des Schulsystems, den
mittelmäßigen Schüler als allgemeinen Maßstab für Lehrpläne und Zielvorgaben
heranzuziehen. "Ich nenne ihn Achtzigprozent- Schüler, denn er ist noch nicht
so weit, er hat zu wenig Zeit." Zur Therapie wäre laut Seidel, selbst seit
zehn Jahren als Lehrer der Sekundarstufe I an der IGS Wallrabenstein tätig,
eine einzige Änderung notwendig: "Jeder Mensch braucht seine Zeit!" Bei
starken Schülern müsse man den Vorsprung zulassen und sie davon ziehen lassen,
die Schwachen hole man dort ab, wo sie stehen und gibt ihnen die Zeit "ihre
Prozesse rund zu bekommen". Für eine konsequente Umsetzung wäre allerdings
eine Auflösung der vier Grundschulklassen notwendig.
Der Durchschnitt könnte so mehr Begabungen entfalten, es gäbe weniger
Schulabbrecher und als "Versager" titulierte Bezieher schlechter Noten. Mit
seinen kurzen und bündigen Vorschlägen beendet Seidel nach einer halben Stunde
den Vortrag, dem sich trotz geringer Zuhörerzahl eine intensive zweistündige
Diskussion anschließt.
Auch Lehrerin Ursula Giebel sieht im individualisierten Lernen die einzige
Zukunft, damit Kinder nicht vereinzelt würden und mit Bauchweh in die Schule
gehen müssten. Ihr Mann Thomas weist auf den natürlichen Lernwillen von
Kindern hin, mit dem sie auch ohne Lehrer in ihrer eigenen Zeit eigenständig
Laufen und Sprechen lernen könnten. Das Problem bleibe also der "Gleichschritt
in eine verpasste Zukunft", wie die schon im Programm eingeplante Diskussion
überschrieben worden war. Der pensionierte Biologielehrer Franz Wellek
kritisiert, dass die Schule eine Einrichtung der Gesellschaft sei, in die der
Schüler eingepasst werden solle.
Es werde immer draufgepackt, nie grundsätzlich reformiert und somit die
Verwaltungsarbeit für die Schulen ins Unendliche gesteigert, bemängelt Seidel
die bisherige Vorgehensweise der föderativen Bildungspolitik. Mit der
Ausformulierung des schulpolitischen Widerspruchs in Deutschland fasst Roland
Seidel die Meinung aller Diskussionsteilnehmer treffend zusammen: "Das System
der Selektion wird aufrechterhalten, obwohl doch auf der anderen Seite alle
sagen, es dürfe niemand zurückgelassen werden."
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Stand: [AKTUZEIT] |